Beiliegendes Material sowie die Gestaltung des CD-Umschlags lassen in Zeiten von Bandcamp und Co. erahnen, wie wichtig es für NordarR ist, ihre aktuellen, extrem kritischen Tracks optisch passend zu ummanteln. Ihr viertes Album KapitalmarX bietet “powerful, kicking EBM” und bedient somit musikalisch das raue EBM-Klientel. Doch gehen NordarR über einen vergangenheitsorientierte Ansatz im Sinne von “oldschool” deutlich hinaus. Dazu ist der Sound der selbst betitelten – Achtung Ironie: NordarR Unternehmensgruppe – viel zu voluminös und bis ins Detail durchdacht.
NordarR – KapitalmarX
Bei der Frage, wer wohl den derbsten EBM-Sound fabriziert, schauen NordarR einmal über ihre belastbare Schulter wissend in den rückwärtig angebrachten Spiegel. Ihre Tracks rammen gerne potenzielle Hindernisse nieder, rütteln stets an vermeintlichen Sicherheiten.
Andrés bisweilen polarisierende, röhrig-aggressiven Vocals verstärken die konfrontative Wirkung der Band. Sein Ausdruck hat etwas an sich, das man sogar im EBM-Kontext als Hardcore bezeichnen könnte.
Konsequente Ausrichtung
Ein Album mit dem Namen KapitalmarX besitzt natürlich einen roten Faden. Alles andere wäre auch absurd. Streng genommen sogar zwei: Denn inhaltlich speisen sich die Aussagen und Titel aus der täglich greifbaren Spannung im Gegen- und Miteinander, aus der Wut über unzulängliche Lösungen (Lux US) und aus inflationären Entwicklungen der gesellschaftlichen Radikalisierung.
Musikalisch besteht jener Faden hingegen darin, die oben skizzierte Urwut, die Wucht des Sounds und die typische Aggression von NordarR mit einer Produktion zu versehen, die mehr als zeitgemäß wirkt. Sounds, Drums und Sequenzen werden für den gewählten Ansatz extrem gut in Szene gesetzt, alles tönt nahezu physisch greifbar und auffällig präzise.
Zugleich – und dieser Aspekt wird gerne unterschätzt – gerät das Projekt nie in Gefahr, zu einfach, zu primitiv oder gar stumpf zu klingen. Rhythmik und Bässe sowie die eingestreuten Sequenzen variieren ebenso oft wie gekonnt. Dadurch lässt man sich beispielsweise vom bereits bekannten Stomper Never Forget gerne stoßen und schubsen, genießt Ästhetik und rohe Kraft des Tracks gleichermaßen.
NordarR Highlights 2024
Bereits der Opener Wann mit seinem knappen, unmissverständlichen Appell bietet trotz der immanenten Wut ein extrem stimmiges, ausdifferenziertes Soundbild. Unter anderem dieses Merkmal sicherte dem legendären Belief-Album von Nitzer Ebb Ende der 80er Jahre seinen bekannten Status als Klassiker.
Hört doch mal rein, wie geil beispielsweise der Klang, wie fresh die Bässe, wie greifbar die Rhythmik des Midtempo-Stompers Freaks auftrumpfen.
Was NordarR zudem nach wie vor wirklich gut tut, ist die Bereitschaft, wenigstens ab und zu eine kleine Melodie, einen Hook oder eine stimmungsvolle Passage einzuspielen. Derartige Momente kontrastieren sich deutlich von dem hinausgespieenen, fast etwas uninspiriert wirkenden Titeltrack KapitalmarX oder hochgradig funktionalen Eruptionen wie Suffer oder You Will, die einfach zum Austoben einladen.
Neben Wann, Freaks, dem schleppend-hymnischen RIP und Never Forget bleibt Sirenen sofort hängen: Der Track verhält sich in etwa so, als würde man sein Haus verlassen und ohne Vorwarnung von der überbordenden Präsenz einer dicht vorbeiziehenden Demo an die Wand gepresst werden. Konsequent schraubt dieses akustische Spiegelbild der erfahrbaren Gegenwart seine Dynamik im Refrain hoch, lässt jene Wirklichkeit, jenes akute Unheil hereinbrechen, welches man so gerne negiert.
KapitalmarX funktioniert als akustisch-optisches Gesamtpaket
Und während die Sequenzen rattern und knallen, während André schreit, parolenhaft fordert, speit und womöglich aneckt, ertappt man sich dabei, zu der omnipräsenten EBM-Wut das Cover, den Umschlag und die beiliegenden Gimmicks von KapitalmarX zu betrachten. Fast schon erschreckend, wie stimmig die beiden als hipstermäßige Banker und Anlageberater (Krypto sicherlich, oder?) aussehen würden.
Kurzum: KapitalmarX ist ein derbes audio-visuelles Gesamtpaket, in dem auf unterschiedlichen Ebenen eine Menge Punk steckt, und auch als solches zu rezipieren. Wer die aktuellen Shows des Duos kennt, weiß um die Bedeutung des Sichtbaren.
Mutiger Abschluss
Bemerkenswert ist der ungewöhnliche Abschluss des nunmehr vierten Albums von NordarR: Allen Alles kann einerseits als idealtypische, fast naive Forderung erscheinen. Die 10 Minuten an sich stellen ein gelungenes Experiment inklusive Pause, Telefonwarteschleife und Hidden Track im Track dar.
Fazit: Mag sein, dass für EBM-Einsteiger (so es diese überhaupt noch gibt) hier alles etwas zu derb und fordernd klingt. Harter Stuff halt. Doch Szenekennern und ihren Fans hauen NordarR musikalische Eruptionen ihresgleichen um die Ohren. Die beiden Musiker haben Zeit und Mühe investiert, um durchzuschütteln, aufzuregen, anzuregen, zu fordern, zu zweifeln und zu geben. KapitalmarX offenbart sich als ein Kind seiner Zeit, ein Spiegel all dessen, was rundum vor sich geht. In der Wirkung poppt in unruhigen Momenten beim Hören immer wieder eine unbehagliche, ja fast irrationale Faszination auf. An vielen Stellen basiert die Aktualität des Albums erfreulicherweise auch auf dem unerwartet abwechslungsreichen, druckvollen und somit topaktuellen Sounddesign. Wirklich gut, aber sicher nichts für den unbeschwerten Moment zwischendurch.
Wertung: 8.5 von 10 Punkten (8.5/10)
KapitalmarX Releaseinfos
Interpret: NordarR
Release: Februar 2024
Stil: EBM
Tracklisting:
01. Wann
02. Never Forget
03. Freaks
04. BrutE
05. Sirenen
06. Suffer
07. RIP
08. KaPiTalmArX
09. W.S.W.S.*
10. Lux us
11. Niemals
12. You Will
13. Allen Alles
Antworten