Aus dem Baujahr 1965 stammt Thomas Martiné . Erfahrenen Szenegängern ist der Musiker bestimmt noch durch sein Projekt Silent Invasion – Anfang der 90er Jahre auf Danse Macabre Records vertrieben – ein Begriff. Sein aktuelles Schaffenswerk My Mind: The Hand Grenade greift seinen eher songorientierten Output der letzten Jahre auf. Alte Einflüsse und neuere Sounds aus dem weiten Feld von EBM/Electropop und Industrial fügen die Tracks zusammen. Sie lassen eine nachdenklich-dunkle Wucht gegen oftmals persönliche Vocals anrollen.
Martiné – My Mind: The Hand Grenade
Kraftwerk, Jean-Michel Jarre, die Debüts von Gary Numan oder The Human League motivierten den jungen Künstler in den 80er-Jahren dazu, ebensolche Musik selbst zu gestalten. Oder es zumindest zu wagen. Mit einigen Freunden startet er das Projekt Der Erfolg, welches später – Ende der 80er / Anfang der 90er – zu zweit in ambitionierterer Form als Silent Invasion fortgeschrieben wurde. Hier klinken sich für ältere Semester wohl einige Erinnerungen ein.
Schon damals beherrschte der Musiker sowohl den roh-aggressiven als auch den melodisch-zugänglichen Ausdruck, wie zwei recht bekannte Tracks – das wütende Entering The Forest sowie das synthpopartige Souls In Custody – des damaligen Duos zeigen. Silent Invasion fügte sich als integrale Facette in die subkulturelle elektronische Szene ein. Doch es blieb aus verschiedenen Gründen bei nur einem Album. Abspann. Nein, doch nicht.
Neustart im Jahre 2003 als playingGOD
Analog zu einigen anderen Gesichtern der Szene begann Thomas Martiné ab etwa 2003 unter dem Namen playingGOD wieder zu musizieren. Anfangs diente die Kreativität als Ventil für eine missliche Lage. Technisch setzte er den neuen Output ausschließlich auf dem eigenen Rechner um – ein komplett neuer Ansatz mit den verfügbaren Mitteln. Und Auftakt für mehr.
Im letzten Jahrzehnt folgten zusammen mit einem Freund satte acht Alben, teilweise mit sperrigem Charakter. Der Output lebte zumindest eine gewisse Zeit auch von der Gegensätzlichkeit der Akteure. Thomas Martiné verdeutlicht:
Soundcollagen, Krach, Musik für den Kopf, das war die Intention dahinter. Hits konnten andere besser, daran hatte ich auch kein wirkliches Interesse.
Nach mehreren Jahren trennten sich unlängst die Wege der Beteiligten.
Der Schritt zu Martiné
Angestoßen durch eine neue Partnerschaft und motivierenden Impulsen der Partnerin wagt sich der Künstler – nun unverhüllt und weniger kontrovers unter seinem eigenen Namen Martiné agierend – wieder mehr ans Eingemachte. “Du kannst viel mehr”, das war die Botschaft.
Davon ermuntert, verleiht er den nach wie vor elektronischen, bisweilen durchaus straighten Nummern auf My Mind: The Hand Grenade mittels Songorientierung und seiner Charakterstimme Inhalt und Seele.
Bedrückende elektronische Kreationen mit Seele
Wer Alleinstellungsmerkmale sucht, findet diese: Eine spezielle Art ebenso melancholischer wie redundanter Eingängigkeit thront über gleich mehreren der zackigen Songs. T. Martinés Stimme wirkt in diesen Momenten auffallend persönlich. Wahrnehmbar schillert die nachdenkliche Message aus der rhythmisch pulsierenden Düsternis hervor.
Schöne Musik kann ich immer noch nicht, ich lebe grundsätzlich meine Melancholie aus. Schöne Texte kann ich auch nicht, es ist nie alles schön. Alles ist bei mir negativ behaftet.
Im musikalischen Fundament dominieren zeitweise wuchtig-harte und gleichmäßige Elektro-Beats (Atmosfear, Visible Doom), auf deren Gnadenlosigkeit das Ende ausgerufen wird. Im (be-)klemmenden Vorwärtsgang rast man zum Ende. Hier sind wir explizit in der Gegenwart.
Deutschsprachige Nummern wie das von Ideal adaptierte Eiszeit schreiten hingegen in der Zeit zurück, die musikalische Gestaltung baut ebenfalls Brücken zum damals, wirkt aufregend-verspielt.
Das Spiel mit den Layern
So eindeutig die Strukturen, so auffällig ist es gleichzeitig, dass der Klang beileibe nicht einfach realisiert worden ist.
Thomas Martiné ordnet Bass, verspielte synthetische Klänge, dezente Hintergrund-Flächen, unerwartete Einsprengsel und den ein oder anderen Hooks auf zahlreichen Schichten – mal verschmelzend, dann wieder kontrastierend, ja bisweilen unorthodox – an (Dying Of The Light). Damit entziehen sich einige Kreationen, besonders jene mit experimentellem Touch (Innocence Dies), geschickt der Vorhersagbarkeit.
Der Verzicht auf entstellende Stimmeffekte lässt diverse Momente des Werks durch den fast fragil-erzählenden, dann wieder eindringlichen Vortrag dicht an den Hörer heranrücken (Deus Exodus). My Mind: The Hand Grenade wohnt somit nicht nur etwas Bedrohliches, sondern gleichzeitig eine sehr interpersonelle Facette inne.
Neben dem Industrial-lastigen, unermüdlich ratternden Cutting Edge sticht das in drei Versionen enthaltene Original Sin hervor. Es treibt nicht nur an, lässt die faszinierenden Soundlayer atmen und ihre Wirkung versprühen, sondern sorgt mit den melancholischen, monoton wiederholten Vocals für jene Gänsehaut, welche elektronischer Musik innewohnen kann.
My Mind: The Hand Grenade erscheint am 09.12.2022 auf dem Label Nadanna.
Fazit: Es ist immer wieder erfreulich von Musikern, welche die Geschichte nicht weniger Szenegänger mitgestaltet haben, zu hören. Thomas Martiné gelingt einerseits der Brückenschlag zu seiner Vergangenheit, zur lange vernachlässigten Songstruktur und zum gestalterischen Mut. Andererseits wirkt My Mind: The Hand Grenade weder wie ein Aufguss von Silent Invasion noch wie ein beliebiges Electro-Projekt der Neuzeit. Die Mixtur aus harten Sounds, Hingabe zum Klang, sensitiven Vocals und immanenten Negativismus transportiert Bedrohlichkeit im Mantel der Nachdenklichkeit. Sicher eine ungewöhnliche Mixtur mit viel Szenespirit. Explizite Anspieltipps: Original Sin, Wer Ich Bin.
Wertung: 8.0 von 10 Punkten (8.0/10)
My Mind: The Hand Grenade Releaseinfos
Interpret: Martiné
Label: Nadanna
Release: Dezember 2022
Stil: EBM/Industrial/Electro/Synthpop
Tracklisting:
01. Wer Ich Bin
02. Deus Exodus
03. Sturzflug
04. The Last Embrace
05. Dying Of The Light
06. Atmosfear
07. Innocence Dies
08. Visible Doom
09. Eiszeit
10. Original Sin
11. Cutting Edge
12. The Inevitable Lie
13. Leave Me Nothing
14. Original Sin (Rough Dub)
15. Original Sin (Synaptic Defect Rmx)
16. Ancient Orchid (Mind : Code Re-edit)
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